Rezension
Peter Paul Wiplinger
Wörterwelten
Styropor-Beschriftungen 2019–2022.
Löcker Verlag 2023, 108 Seiten
ISBN 978-3-99098-167-2
Dreidimensionales
Es ist ein großformatiges (A4) Buch, das Peter Paul Wiplinger vorlegt: »Wörterwelten«, die im Untertitel verraten, dass es sich um Styropor-Beschriftungen handelt. Damit setzt der Autor erklärtermaßen seine Schachteltexte, Beschriftungen von Schachteln, fort, die zuvor schon in drei Bänden ebenfalls bei Löcker erschienen sind.
Im ersten Augenblick mögen Leser*innen fragen, was Styropor-Beschriftungen denn sein sollen. Das Titelbild zeigt es, obwohl erst im Vorwort ganz klar wird, worum es sich handelt: Wiplinger suchte sich in diesem gewiss eigenwilligen Projekt Styropor-Teile aus, wie sie in diversen Verpackungen, insbesondere von Elektrogeräten zu finden sind oder zumindest bis vor Kurzem zu finden waren (denn die Industrie steigt inzwischen aus Umweltschutzgründen vielerorts auf Füllmaterial aus Karton um). Mit einem Filzstift wurden diese Styropor-Teile, die ungleiche Ausformungen haben, vom Autor beschriftet.
Es sind lyrische Texte, Aufzeichnungen, Anmerkungen, Notizen. Die Entstehung verläuft spontan und assoziativ, aber vor allem: konzentriert. Die nun abgeschlossene Sammlung von mehr als einhundert Styropor-Objekten wurde von Wiplingers Ehefrau Annemarie Susanne Nowak fotografiert und auf den Hochglanzseiten dieses Buches dargestellt. Wo die dreidimensionalen Gegenstände auf mehreren Seiten beschrieben sind, finden sich gleich mehrere Bilder unter demselben Titel. Und dass alle fotografierten Objekte mittels Retuscheprogramm freigestellt und auf einen schwarzen Hintergrund platziert wurden, unterstreicht definitiv ihre suggestive Wirkung.
Die Spontaneität des kreativen Prozesses führte zu recht unterschiedlichen Texten, und doch erkennen Leser*innen jene Themen wieder, die Peter Paul Wiplinger sein ganzes Leben begleitet haben: die Liebe, die Erinnerung an die Nazidiktatur und der Kampf gegen das ewiggestrige Geschrei so mancher, die Familie und das nahe Ende. Da diese Styropor-Beschriftungen in den Jahren 2019 bis 2022 entstanden, tauchen verständlicherweise viele Gedanken rund um Wiplingers Krebserkrankung auf. Diese kommen mitunter so lapidar finster und prägnant daher wie die folgenden Zeilen:
Deine Haut ist so weiss.
Der Himmel ist so blau.
Der Sarg ist schwarz. (S. 87)
Peter Paul Wiplinger hat sich nie ein Blatt vor den Mund genommen und spricht die Dinge offen an, doch diese Zeilen entwickeln in ihrer geradezu lyrischen Unscheinbarkeit eine Wucht, die ihresgleichen sucht. Formal ähneln sie dem japanischen Senryū.
Viele Beschriftungen wären gar nicht so einfach zu transkribieren. Deshalb wurde sinnvollerweise bei den meisten gleich darauf verzichtet. Warum? Die Styropor-Objekte haben völlig unterschiedliche Formen; es gibt Auslassungen, vorstehende Teile, Noppen, kleine Fenster, Einbuchtungen oder Mulden, manchmal Rundungen, öfter jedoch Rechtecke und Quadrate – die Positionierung der Textteile auf und in diesen Elementen trägt zum Gesamteindruck bei. Viele Objekte verfügen über eine gute Standfläche, manche sollte man wohl eher an die Wand hängen.
»Kernaussagen« sind oft in der Mitte eines Objektes angeordnet. So etwa beim Folgenden:
GOTT
sieht alles!
Nur in Auschwitz
und in den anderen
Vernichtungslagern
war er völlig blind! (S. 41)
Um diesen »Kerntext« laufen weitere Sätze, die sich um diesen Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes drehen. Mich erinnert diese Anordnung passenderweise an den Talmud, in dem rund um den Bibeltext die Kommentare der Schriftgelehrten angeordnet wurden und noch weiter außen die Kommentare zu den Kommentaren.
Der Titel »Wörterwelten« ist nicht von ungefähr gewählt, denn Wiplinger thematisiert häufig das Wort, den Satz und die Sprache allgemein, er spricht im Vorwort sogar von einer Erforschung der Buchstaben. Beim »Verpackungsabfallsprodukt«, das ein solches Styropor-Teil ja ist, redet er von »Sprachmüll« und »Wörterabfall«, aber auch von der »Wiederverwertung« (S. 48), die in diesem Zusammenhang doppelt zu verstehen ist. Das »Schriftbild« (S. 47) wird geschickt angeordnet, und das führt zu einer vielleicht überraschenden Ästhetik der Objekte. Da manche Teile ziemlich groß sind, etwa die Absicherung einer Waschmaschine, und der Autor ganz offensichtlich eine Menge Zeit für die Gestaltung aufbrachte, sind Leser*innen bei solchen Objekten eine ganze Weile mit der Lektüre beschäftigt. Schließlich wollen wir die Texte, die uns da entgegentreten, unter einen Hut bringen oder sie zumindest rund um diesen Hut gleich intertextueller Satelliten hübsch anordnen.
Inhaltlich freilich lässt vieles den Atem anhalten. Putins unsägliche »Spezialoperation«, mit der wir uns seit mehr als zwei Jahren konfrontiert sehen, hat auch in diesem Buch seine Spuren hinterlassen. In der Mitte dieses Objektes steht:
Raketen
Panzer
geschützte
Drohung
mit den
Atombomben
gegen den Feind
den »Westen«
VÖLKERMORD
MASSAKER
Auslöschung (S. 30)
Wiplinger prangert vieles an, was seit Langem völlig schief läuft in dieser Welt. Die Mörder und Diktatoren werden sich dadurch nicht aus ihrer Ruhe bringen lassen, doch halte ich es für wichtig, dass die Literatur zu den Verbrechen, die an der Menschheit begangen werden, nicht schweigt. Und Peter Paul Wiplinger schweigt nicht; weder in seinen Gedichten, noch in den Schachteltexten, noch auf den hundert Objekten aus Wegwerf-Styropor.
Die kritischen und mitunter dunklen Gedanken, in denen sich wohl auch lebenslange Enttäuschungen zeigen, werden wiederum durchbrochen durch solch schöne poetische Zeilen:
Tanzen
im Saal
1MAL
wie oft
Horizont
vertikal
horizontal
alles banal
alles egal
Smaragd
seidengrün
dein Kleid (S. 86)
Treffend sagt Wiplinger an einer anderen Stelle: »Ich habe mein Herz in Styropor gut verpackt« (S. 82). Im Übrigen weisen alle Fotos ein Entstehungsdatum auf, so, wie es der Autor auch mit seinen Lyrikbänden hält.
Gut, dass Peter Paul Wiplinger auch angesichts bitterer Erinnerungen und einer aktuell geradezu unerträglichen geopolitischen Lage weder »sprachlos« noch »wortlos« ist (S. 99). Die Originalobjekte wurden in den Bestand des oberösterreichischen Adalbert-Stifter-Institutes übernommen. Für meinen Teil halte ich die »Wörterwelten« für Wiplingers ungewöhnlichstes Buch, und es ist erfreulich, weil nicht selbstverständlich, dass der fünfundachtzigjährige Autor die mehrjährige Arbeit vollenden konnte.
Klaus Ebner (2024)