Rezension
Max Haberich
Ziegel und Elfenbein
Roman
kladde buchverlag, Pfaffenweiler - Freiburg 2017, 240 Seiten
ISBN 978-3-945431-34-4; eISBN 978-3-945431-35-1
Mit Ausnahme kurzer Exkursionen in der Nähe (nach Ascot & «natürlich» zum Themse-Bootsrennen) und ins Ausland (Paris, Wien, die Schwäbische Alb) bleibt das Geschehen ganz innerhalb der Stadt, ja der Universität Cambridge. So mag sich auf sie dann ganz auch der – weil nicht direkt nachvollziehbar, etwas kryptisch anmutende – Titel beziehen: Die Ziegel, bis hin zur wirre(n) Geometrie in Backstein, werden als charakteristischer und das bauliche Erscheinungsbild letztlich auch stimmungsmäßig formender Baustoff diskursiv erwähnt. Das Elfenbein findet sich hingegen nicht materiell; es dürfte somit der dementsprechende akademische «Turm» gemeint sein, der allerdings in seiner sich absetzenden Höhe bereits in erheblichem Wandel betroffen ist bis hin zum wohl dem 21. Jahrhundert geschuldeten Einbruch der Genderbewegung in die eben an sich reichlich abgehobene Männerwelt – wären da nicht die dominierenden, aus mitteleuropäischer Sicht fast schon überbordenden, in Ablauf und Wirkung eng gesetzten Traditionen.
Die Beschränkung muss ja beileibe kein Nachteil sein. Nicht explizit (und damit einmal angenehmerweise nicht als der schon oft geübte Reiseführerersatz) sondern eingebunden in das Geschehen oder besser Treiben der Studierenden erfährt man mühelos und buchstäblich kursorisch einiges Wissenswertes: zum äußeren Umfang der Gebäudekomplexe inklusive Torgebäude mit Porter’s Lodge, Kapelle, Höfen (Courts) und «heiligem» Rasen, sowie zur Rolle der zahlreichen Colleges – im Mittelpunkt das (literarische) St. Edward’s – und ihrer starken Konkurrenz, nicht zuletzt bei der Geldbeschaffung zur Beibehaltung des Renommees, sowie namentlich im Bereich der jeweils hauseigenen Societies und feucht-fröhlichen Veranstaltungen, bei denen das Essen mit dem Schwerpunkt des Formal Dinner als «Mahl»-Zeit und die Bälle (z.B. Trinity, May, London Regency Ball) als soziale Treffpunkte zelebriert werden – was alles geraume Zeit in Anmeldung, Vorbereitung, Durchführung und Nachdünsten benötigt.
Dass es keinesfalls eines wechselnden Umfelds, breiten Personenbetriebs und «großartiger» Geschehnisse bedarf, um gut nachvollziehbare und spannende menschliche Verhältnisse zu schaffen, wissen wir spätestens (zu Mittelengland passend!) seit Jane Austen vor 150 Jahren. Durchaus vergleichbar bleiben in Haberichs Roman die Beobachtungsgabe und die Widerspiegelung des Charakters des täglichen Lebens in dem Gefühlshaushalt der Handelnden. Es sind, bei einigen mehr oder minder angegliederten Nebenpersonen, deren vier junge Leute, wohl kaum zufällig mit Blick auf den generellen Beobachtungshorizont eine «bunt» zusammengesetzte Beziehungswelt: ein Amerikaner (Pierce Wilder), eine Französin (Florence de Saint-Juste), eine Grazerin aus Wien (Theresia [mit «i»] Liechtenstein) und, als zentrale Figur, ein englischer, allerdings aus dem Süden stammender Part. Ambrose Willowfield ist in etwas Abstand als Endzwanziger auch der Älteste der Gruppe und studiert, als begabter Pianist, im Endstadium Musikwissenschaft.
Sein Dissertationsthema wird sogar von Zeit zu Zeit schrittweise eingebaut: Mittels Archivdurchforstung in Cambridge ergibt sich die Neubewertung eines jüdisch-bürgerlichen Komponisten des Fin de siècle in Wien namens Julius Blumenberg. Dieser scheint, zudem belegt in kurzen, als originale Schriftstücke zu verstehenden Dokumenten wie Tagebucheintrag oder Brief eine neue Tonalität («Jazz») jenseits von Romantik und Zwölftontechnik gefunden zu haben. So zumindest ist der Doktorand auch dank eigener zusätzlicher Forschungen überzeugt – was er auf einem Kongress in Wien vehement darzustellen vermag –, weiß sich aber darin in größtem Kontrast zur gegensätzlichen unverbesserlichen Meinung seines Doktorvaters. Für das Verhältnis der Vier untereinander ist die Forschung handkehrum insofern wichtig, als sich der Seelenzustand von Ambrose durch die Umstände mehrfach verschiebt und innermenschliche Problemfelder schafft.
Ansonsten nahezu unabhängig ergibt sich – neben den eingeschobenen Berichten über Sitzungen der Professorenschaft im St. Edward’s – aus dem vielfältigen Treiben der jungen Leute ein Kaleidoskop von Einstellungen und Meinungen von und zu (der Generationenfrage, dem Rang der Geisteswissenschaften u.a.m.) sowie vor allem ein Potpourri von Verhaltensweisen im mittleren akademischen Segment, das bei standardisierter Sprache über die alltäglichen Sorgen um Stipendien und Noten bis, oft als Aufmunterung erlebt, zu einem in mancher Hinsicht «Über-die-Stränge-Schlagen» reicht, kurzum: Der Bezug auf das Fachliche vermischt sich mit dem steten Blick auf das (jeweils) andere Geschlecht, kombiniert mit hoher Bedeutung von Essen + Trinken, Ortsbild und, very british, Wettercharakter. Das Persönliche dominiert, angeheizt durch die stete Konfrontation mit den cambridgeanischen Zuständen; A.W. vermag da nur bedingt zu vermitteln. Aus den Haltungen entsteht im Hin und Her kein eigentlicher Habitus, vielleicht kann er es auch nicht: Das Geschehen vollzieht sich in konzentrischen Kreisen der immer gleichen Konstituanten, derselben äußeren Umstände, der etwas gehemmten Versuche, mit dem offenbar Unabänderlichen umzugehen; eine eigentliche Lösung gibt es, wenn überhaupt, demnach nur auf individuellem Weg.
Nach der Lektüre verbleibt gesamthaft ein Sittenbild, vor welchem – kurz im Prolog vorgestellt – der schlussendliche Todesfall des Haupthelden inhaltlich eher als zufällige Randnote erfolgt und sich letztlich über die eingehende Schilderung der betreffenden, betroffenen Figur im allgemein unveränderlichen Getriebe auflöst: somit ein Ende, das (ähnlich wie in anderen Büchern, etwa, berühmt, in Thomas Manns «Zauberberg») einen etwas künstlichen Schluss bedeuten muss.
Bleiben auch in der Edition einige Schwächen des Lektorats und Korrektorats mit verstreuten kleineren grammatikalischen und einigen Satzspiegelfehlern, so besticht das Buch durch das auch sprachlich Unverblümte der Darstellungsweise, die Frische gleichsam «frei von der Leber weg». Wobei – bei aller Fiktion! – durch ein Insider-Wissen (dank Studienaufenthalt) gleichwohl eine erhebliche Authentizität des lokalen Kolorits erwartet werden darf. Zum anderen verhalfen in der Frage «Blumenberg» offensichtlich Haberichs intensive Forschungen zu Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann dem Komponisten weitgehend zu seinem «Gesicht».
Die gesamte Schilderung atmet die ungebrochene auktorial-geradlinige Verbindungskraft und den Schwung des Debütromans: Man darf folglich schon jetzt auf weitere Bücher Max Haberichs gespannt sein … und sich freuen.
Rezensent: Martin Stankowski