Rezension
Regina Hilber
Am Rande. Zwischenaufnahmen aus der Mitte Europas
Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2024, 280 Seiten
ISBN 978-3-903522-19-0
In Länder und Kulturen eintauchen
Der Essayband Am Rande von Regina Hilber erschien im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft. Im Untertitel heißt es: Zwischenaufnahmen aus der Mitte Europas. Leser*innen finden sich in Italien wieder, ebenso wie in der einst österreichischen und heute ukrainischen Bukowina, in Steyr (AT) und Kassel (DE). Die »Zwischenaufnahmen« sind sehr persönlich gehaltene Essays, die zahlreiche Informationen zu den besuchten Orten, deren Alltag und Kultur enthalten.
Regina Hilber wurde 1970 in Niederösterreich geboren und lebte einige Jahre in Tirol. Längere Arbeitsaufenthalte führten sie in die USA, nach Argentinien und Italien. Ihre Reisetätigkeit und ihre Aufenthalte, nicht zuletzt im Rahmen von Schreibresidenzen, schlagen sich in ihren Texten nieder; in der Lyrik ebenso wie in den Essays. Viele ihrer Arbeiten wurden ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Darüber hinaus ist sie als Publizistin, Herausgeberin und Kuratorin literarischer Veranstaltungen tätig. Regina Hilber lebt in Wien.
Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt, nämlich »Randnotizen aus Italien«, »Zwischenaufnahmen aus deutschsprachigen Randzonen« und »Aus dem Schaukasten Galizien und Lodomerien«, womit die Essays in geografischer Hinsicht recht genau umrissen sind.
Im ersten Teil geht es also nach Italien. Natürlich sind das nicht die üblichen Landstriche oder Erfahrungen, die wir landläufig kennen. Regina Hilber dringt in Bereiche vor, die, so meine ich, den meisten eher unbekannt sind. Dass Mussolini in der Zwischenkriegszeit ein riesiges Sumpfgebiet, die Pontinischen Sümpfe trockenlegen ließ, um dort Ackerland und Siedlungsgebiet zu gewinnen und gleichzeitig den Fluch der Malaria aufzuheben, war mir neu – und das, obwohl ich einmal Italienisch studiert habe! Die Autorin geht von einem Wandspruch in der Ortschaft Norma aus, den die Faschisten vor vielen Jahren angebracht haben und der auch bei späteren Fassadenrenovierungen niemals übertüncht wurde; ein Spruch übrigens, der inhaltlich überraschend an die markigen Slogans von Donald Trump gemahnt. Solche – historischen – Parallelitäten lassen schon mal tief Atem holen. Weiters ist von den zahlreichen Opfern die Rede, die das Monsterunternehmen der Sumpftrockenlegung forderte. Dass der Essayband zudem mehrere Schwarz-Weiß-Fotos der Autorin enthält, ist ein zusätzlicher Pluspunkt, denn sie visualisieren vieles, wovon die Rede ist; unter anderem sind Aufnahmen der heutigen Pontinischen Ebene abgedruckt, welche der Canale Mussolini durchfließt.
In Bologna – 100 Jahre Pier Paolo Pasolini breitet Hilber anlässlich des hundertjährigen Geburtstagsjubiläums auf etwa fünfzehn Seiten eine komplette Biografie des polarisierenden Dichters und Filmemachers aus. Dabei geht es keineswegs nur um die literarisch interessanten Seiten Pasolinis, sondern auch um seine schwierigen Lebensumstände, die Homosexualität, seine politischen Ansichten im links-anarchischen Spektrum, die jahrelangen Gerichtsprozesse und, nicht zuletzt, um die sexuellen Übergriffe, derer er sich ganz offensichtlich schuldig gemacht hatte. 1975 wurde Pasolini ermordet aufgefunden, und bis heute konnte nicht abschließend geklärt werden, was sich damals eigentlich abgespielt hat.
Bologna, eine politisch linke Hochburg Italiens, ist ein geeigneter Auslöser für diesen Essay über Pier Paolo Pasolini. Heute wird Bologna mehrheitlich von Erasmus-Student*innen überschwemmt, darunter zahlreiche Amerikaner*innen, die sich hier unter anderem Lebenserfahrungen holen, die sie in Nordamerika kaum machen können. Zum Schmunzeln brachte mich in diesem Zusammenhang der letzte Satz des Textes: »Bologna aber zeigt auch im Jahr 2022 Pier Paolo Pasolini seine Reminiszenz, und das kann erquickender sein als der Anblick von angetrunkenen amerikanischen Kommilitoninnen an der Piazza Verdi.« (S. 81)
Mich inspirierte Hilbers Essay jedenfalls dazu, Pasolinis bekanntes Buch Petrolio, das seit einigen Jahren noch ungelesen in meinem Regal steht, endlich zur Hand zu nehmen.
Nicht nur die italienischen Zwischenaufnahmen, sondern auch jene der »deutschsprachigen Randgebiete«, zu denen das norddeutsche Brandenburg gehört, aber auch die oberösterreichische Industrie- und Statutarstadt Steyr, wo Hilber eine Zeitlang Stadtschreiberin war, sowie die Orte des mitteleuropäischen Ostens schlugen sich nicht nur in den Essays des vorliegenden Buches nieder, sondern auch in der Lyrik, etwa in den zwei Jahre vorher publizierten Super Songs Delight. Somit wirkt manches nach der Lektüre des einen Buches im zweiten irgendwie bekannt. Persönlich finde ich es hochinteressant und in gewisser Weise ungewohnt, dass sich solcherart Reiseerlebnisse einerseits in Lyrik und andererseits in Essays – noch dazu in so gekonnter Weise – niederschlagen können, da die beiden Gattungen für mein Gefühl doch sehr weit auseinander liegen.
Steyr erhielt 1236 das Stadtrecht. Die Gemeinde blickt auf eine lange industrielle Vergangenheit zurück, unter anderem in der Fahrzeug- und Waffenproduktion. Die Autorin spricht den fragwürdigen Beitrag der Stadt zur Naziherrschaft, Stichwort Zwangsarbeiter*innen, an und macht kein Geheimnis daraus, dass dieses Thema auch heute noch gerne vermieden wird. Die jetzigen Bewohner sind selbstverständlich und zu Recht stolz auf jene Produkte, die aktuell produziert werden. Regina Hilber traf während ihrer Zeit als Stadtschreiberin auf viel Entgegenkommen, Offenheit und Sympathie, in einzelnen Bereichen aber auch auf verlegenes Schweigen. Ihre Texte zur Stadt setzen dieser jedenfalls ein würdiges und einfühlsames Denkmal. »Unter Dach in der Kollergasse die langgezogene, schmale Stadtschreiberwohnung, drüben auf der anderen Seite der Enns. Dicht an dicht stehen die winzigen Häuschen in der mittelalterlichen Gasse mit Kopfsteinpflaster, manche nur eine Armbreite voneinander entfernt, dort wo die Bauweise nicht geschlossen ist. Die schmalen Häuschen und ergo ihre Dachwohnungen sind genau ein Zimmer breit. Wie in einem Schiffsrumpf, darüber nur das Deck als Dach, als dünne Haut und Guckloch.« (S. 112)
Im dritten Abschnitt geht es nach Galizien und Lodomerien. Regina Hilber unternahm diese Reise, gemeinsam mit einem Begleiter, 2017. Der Stellvertreterkrieg in der Ostukraine hatte bereits drei Jahre zuvor begonnen und die Krim war wider das Völkerrecht von der Russländischen Föderation annektiert worden. Mit spürbarer Trauer und Melancholie beschreibt die Autorin am Beginn des Essays Eine Reise an die Ränder, wie die gesamte ehemals habsburgische Gegend und die gesamte Ukraine allmählich und spätestens seit Putins Überfall 2022 in brutalen Kriegswirren versinken. Dass auch viele Reste dessen, was von der österreichischen Monarchie und der mehrsprachigen Vielvölkerkultur übrig ist, darin verschwinden werden, liegt auf der Hand. So könnten Regina Hilbers Essays zu den letzten Zeugnissen einer nun endgültig untergegangenen Welt gehören und mit einer schwermütigen Ergriffenheit gelesen werden.
Czernowitz war, neben Prag und Wien, eine der drei Literaturhauptstädte der Habsburger-Monarchie, und der weitere Einzugsbereich, den Hilber auf ihrer Reise besuchte, trug ebenfalls zum Reichtum des österreichischen Schrifttums in deutscher Sprache bei. Namen wie jene von Paul Celan, Rose Ausländer, Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Leopold Sacher-Masoch und Gregor von Rezzori sind weithin bekannt und viele ihrer Werke in den Buchhandlungen vorrätig. Auch Grodek, jenem Ort, der den Salzburger Expressionisten Georg Trakl im Ersten Weltkrieg nachhaltig verstörte und seinem bekannten gleichnamigen Gedicht den Titel verlieh, hat Hilber einen Besuch abgestattet.
Es ist geradezu aufwühlend, wie viele Erinnerungen an die österreichische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts bis hin zur Auflösung der Monarchie in jenen Landstrichen und Ortschaften vorhanden sind und aufmerksamen Besucher*innen ins Auge springen. In Lwiw/Lemberg gibt es ein eigenes Paul-Celan-Literaturzentrum und das zugehörige Literaturfestival des Meridian Czernowitz, das von der jungen ukrainischen Germanistin Evgenija Lopata seit Jahren erfolgreich geleitet wird. Hier finden – oder fanden zumindest bis zum russländischen Überfall – Lesungen in Deutsch, Ukrainisch und Russisch statt, zu dem das Zentrum stets Autor*innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz einlädt. Möglicherweise wird auch dieses einmalige Kulturzentrum in den nächsten Jahren seine Tore schließen müssen.
Die Texte erinnern an viele Namen, die fast schon vergessen sind. Galizien, die Bukowina und Lodomerien zeichnete ein kraftvoller jüdischer Kulturbeitrag aus, und das Nebeneinander von Deutsch, Jiddisch, Ukrainisch/Ruthenisch, Rumänisch, Ungarisch, Polnisch und Russisch war jahrzehntelang eine Selbstverständlichkeit. Vieles davon war bereits zur Zeit von Hilbers Reisen nur mehr historisch fassbar. Die Spuren sind in einer reichhaltigen Literatur zu finden; womöglich aber bald nur mehr dort.
Vom Aufenthalt der Autorin in Lemberg stammt das folgende Erlebnis, das mich menschlich sehr berührt hat: »Die Straßenbahnen sind übervoll. Ein Fahrgast, der ganz hinten eingestiegen war, reicht einen kleinen Geldschein an den stehenden Fahrgast vor ihm weiter. Der Geldschein wird von Hand zu Hand weitergereicht zum endlos weit entfernten Fahrer. Dieser händigt schließlich einen Fahrschein aus und tatsächlich, fünf Stationen weiter kommt der Fahrschein zurück zum Fahrgast, der das Geld auf die weite Reise, zurück an das Ende des Waggons, geschickt hatte.« (S. 215 f.)
Die Essays vermitteln einerseits das umfangreiche historisch-kulturelle Wissen der Autorin und sind andererseits betont persönlich gestaltet. Beim regelrechten Kampf, Bahntickets trotz eines Computerausfalls zu ergattern und den gewünschten Zug zu erreichen, können wir Leser*innen gleichsam mitfiebern. Regina Hilbers Russischkenntnisse haben einiges erleichtert, und es liest sich überaus vergnüglich, wie sich die Autorin und ihr Begleiter in manchen Situationen mit Verve und Hartnäckigkeit durchschlugen.
Die bereits erwähnten Fotos runden die Texte gekonnt ab, und beide vermitteln ein einprägsames Bild der besuchten Gegenden und Ortschaften. Vieles davon wird, das müssen wir mit Wehmut erkennen, angesichts des Krieges nicht mehr lange fortbestehen: Die multiethnische Gesellschaft zerbricht; der jüdische Beitrag ist schon seit Hitler und Stalin deutlich reduziert, scheint nun aber gänzlich auszusterben; ein neuer ukrainischer Nationalismus wendet sich zunehmend und verständlicherweise gegen alles Russische; und niemand kann sagen, wie das alles enden wird. Am Rande erschien als handliches Taschenbuch der Theodor Kramer Gesellschaft und brilliert mit einem angenehm zu lesenden, sorgfältig umgesetzten Buchsatz. Für mich stellt dieser Band eine Art Leuchtturm innerhalb des essayistischen Literaturgeschehens dar.
Klaus Ebner (2025)