Rezension
Edda Noreia
Mond der vergessenen Träume
R. G. Fischer 2024, 474 Seiten
ISBN 978-3-8301-1915-9
Nimmt man ein Buch zur Hand, das Menschen und deren Leben beschreibt, dann wird man auf zweierlei Weise in fremde Welten versetzt: einerseits in die beschriebene Welt, andererseits aber auch in die Welt der Autorin. Edda Noreia hetzt den Leser von der ersten Zeile an in die Halluzinationen und Verwirrungen eines jungen Mädchens, das schon viel zu viel erlebt hat und keine Richtung weiß, keine Beständigkeit hat. Man möchte meinen: Hätte das Mädchen jetzt für sein Leben einen Entschluss gefasst, dann wäre er doch beim nächsten Herzschlag wieder verworfen. Welche Wendungen wird das Leben dieses Mädchens auf den nächsten 470 Seiten durchlaufen? Das Buch trägt den Untertitel ‚Wolfsmond‘. Dies ist der erste Vollmond im Neuen Jahr. Er bringt, so heißt es, Stärke und Überlebenswillen. Vielleicht ein Motto?
Edda Noreia verwendet ohne Unterlass ein Fortissimo von schwankenden Gefühlen. Sie lässt nur dieses Mädchen sprechen: Katja, Katharina.
Die Autorin führt drastisch, aber anfangs doch vorsichtig, in die Welt von Katja ein. Medizinisch hat Katja wohl eine ‚Dissoziative Persönlichkeitsstörung‘, wechselt also zwischen unterschiedlichen Charakteren, Denkweisen und Gedächtnisinhalten. Diese Diagnose ist aber nicht wesentlich für das, was erzählt werden soll. Es geht zunächst um ein noch minderjähriges Mädchen, das ohne Eltern bei seiner Tante Lola wohnt, die wechselnde Liebhaber hat. Katja bricht die Schule ab, will Selbständigkeit, braucht Geld, um zu überleben, arbeitet in Bars und verdient ein paar Scheine auf der Straße nach der Sperrstunde. All dies wäre genug für die Schilderung eines herzergreifenden, traurigen Schicksals.
Edda Noreia will aber anderes. Sie verwendet die zweite Persönlichkeit Katjas, um Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, das NS-Regime und die Konzentrationslager unterzubringen. Die zweite Katja erlebt diese Ereignisse persönlich – obwohl sie doch erst drei Generationen später geboren wurde! Wie diese Erinnerungen in Katjas Kopf gelangen, kommt nicht zur Sprache. Das ist auch nicht nötig, in einem Roman ist auch Geheimnisvolles erlaubt. Katja ist einmal in der Jetztzeit, einmal in der alten Zeit. Sie tanzt für SS-Offiziere, hat eine Freundin, die auswandern muss. Die Berichte über das rigorose Regime und insbesondere über die Schrecken der Konzentrationslager hat die Autorin gut bezeugten Dokumenten von Zeitgenossen entnommen.
Man wird durch die ständig in Extremen hastende Sprache sehr persönlich in das Leben Katjas, dieses sehr unglücklich aufgewachsenen und jetzt in den Nächten streunenden Menschenkindes, hineingezogen. Eine Perspektive erhält Katja trotz des Wolfsmondes nicht.
Auch wenn wahrscheinlich eine bescheidenere Zahl von Episoden ausgereicht hätte, um der Geschichte Gestalt zu verleihen, dem Sog dieser Sprache kann man sich nicht entziehen.
Walther Menhardt (2025)