Rezension
Sabine. M. Gruber
Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten
Residenz Verlag 2024, 160 Seiten
ISBN 978-3-7017-1794-1
Nikolaus Harnoncourt stammte aus adeligen Kreisen, versuchte diesen gesellschaftlichen Hintergrund aber nie zu betonen. Als Dirigent verstand er sich als primus inter pares. Seine Aufgabe sah er darin, ein Werk gemeinsam mit den anderen Mitwirkenden zu erarbeiten.
Zu diesem Selbstverständnis gelangte er wohl auch, weil er lange Zeit als Orchestermusiker die „andere Seite“ kennen gelernt hatte. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie ein Orchester denkt und reagiert, wie es den Dirigenten wahrnimmt.
Neben seiner Orchestertätigkeit beschäftigte er sich aber schon vor seiner internationalen Karriere mit alter Musik, gründete den concentus musicus und lernte dort bereits, wie man ein Orchester leitet. Sowohl seine Erfahrungen als Cellist bei den Wiener Symphonikern als auch die Beschäftigung mit alter Musik mündeten in eine internationale Karriere. Er begann mit einem ihm schon vertrauten Repertoire und dirigierte erst nach und nach auch modernere Werke. Die Mozartrezeption reformierte und revolutionierte er geradezu. Er entfernte die Patina, die sich über dessen Werk ausgebreitet hatte.
Bei allen Werken, die Harnoncourt dirigierte, herrschte das Prinzip der Leidenschaft, von der er sich aber nicht hinreißen ließ. Dahinter stand ein genaues Studium des Klangmaterials, beides wurde dann verbunden. Es ging ihm darum, alle anderen Ausführenden so vom Geist der Komposition zu erfüllen, wie er selbst es war. Dazu bot er die eigene Hingabe und Begeisterung auf, die sich unter anderem im berühmten „Harnoncourt-Blick“ manifestierte, dem man sich als Mitwirkender kaum entziehen konnte. Dabei wurde er von Sabine Gruber, die jahrelang Mitglied des Schönberg-Chors war und Hanoncourt aus nächster Nähe erlebte, studiert. Daraus entstand eine umfangreiche Sammlung von Aussprüchen, die dieses Buch versammelt und die Harnoncourts Arbeitsweise illustriert, begleitet von eigenen kurzen Essays zum Thema Musik.
Man kann sich die Atmosphäre bei diesen Proben anhand der Zitate gut vorstellen: Harnoncourt benutzte Metaphern, Zurechtweisungen, Aufklärungen und Einblick in seine eigene Vorstellungswelt, manchmal mit heiligem Ernst, dann wieder mit Humor und Ironie, um das Ensemble nicht in seinem Sinn, sondern im Sinn des Werks zu motivieren. Er war schnörkellos und werktreu, wirkte zuweilen verärgert und schroff, war aber stets bemüht, keine „dicke Luft“ aufkommen zu lassen, die für die Erarbeitung eines Musikstücks tödlich sein kann. Das Ensemble sollte seine Absichten verstehen wie er selbst, und am Ende auch das Publikum. Nichts wollte er weniger als blasiertes Elitedenken, das er mit Unverstand gleichsetzte. Alle – Zuhörer und Spieler zugleich – sollten vom Werk gleichermaßen ergriffen sein.
Viele Dirigenten bemächtigen sich eines Musikstücks, indem sie es nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Harnoncourt ging es aber immer darum zu veranschaulichen, was der Komponist mit seinem Werk sagen wollte. Dazu bediente er sich einer ganzen Palette von Sprachbildern, die seine Philosophie ausdrückten.
Wie ging Harnoncourt dabei vor? Schon im Titel des Buches ist die Absicht ausgedrückt: „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten.“ Das Konventionelle war nie Harnoncourts Ziel, oder, wie er es in einem anderen Ausspruch formuliert, „man kann ja eine Grenze nur erkennen, wenn man sie überschreitet“. Das betrifft sowohl die Aussprache der Sänger und des Chores, die Lautstärke des Orchesters als auch die Interpretation der Intentionen des Komponisten.
Einmal sagte er zu einem Sänger: „Sie singen das so, als ob wir alle deppert wären.“ – Auch harsche Kritik soll auf den rechten Weg führen. Vor allem aber war er um Einsicht und Verständnis bemüht. Und immer wieder taucht ein Hinweis auf die Absichten des Komponisten auf: „Da müssen Sie immer die Flöten hören, sonst sind Sie zu laut. Wozu hätte der Bach sie denn komponiert, wenn er nicht wollte, dass man sie hört?“
Zu einer Stelle in Haydns „Schöpfung“ bemerkte er: „Das ist der Witz beim Haydn, er baut Erwartungen auf, die er dann nicht erfüllt. Das Nichterfüllen der Erwartungen, das ist es, was den Zuhörer wieder freut.“
Diese Sammlung von Aussprüchen während der Proben zu verschiedensten Werken bedeutet einen Blick in die Arbeitsweise Harnoncourts, die dem Leser zugleich auch wissenswerte Hinweise in das Wesen der Musik überhaupt vermittelt.
Bernhard Heinrich (2025)