Rezension
Peter Paul Wiplinger
Wortschutt. Schachteltexte 2024
Löcker Verlag 2025, 102 Seiten
ISBN 978-3-99098-214-3
Verschachtelungen
Peter Paul Wiplinger setzt seine Reihe der Schachtel- und Styroportexte mit einem weiteren großformatigen Band mit Prosatexten fort. Diese Texte haben auf auseinandergelegten Schachteln Platz bzw. wurden vom Autor dort bewusst platziert und geschrieben. Wortschutt enthält alle Texte in zwei Varianten: Zuerst finden Leser*innen ein Foto einer aufgetrennten Schachtel mit der originalen Handschrift Wiplingers. Die fotografierten Objekte wurden freigestellt und auf einen dunklen Hintergrund gesetzt, was ihre suggestive Wirkung betont. Gleich anschließend an jede Schachtel ist die Transkription abgedruckt, die von Wiplingers Ehefrau Annemarie Susanne Nowak erstellt wurde. Sie zeichnet übrigens auch für Fotos, Lektorat und Layout verantwortlich.
Peter Paul Wiplinger wurde 1939 im oberösterreichischen Haslach geboren – zu diesem Ort gibt es von ihm das aufschlussreiche Buch Haslach (be-)denken – und lebt seit 1960 in Wien. In seinen mehr als sechzig Buchpublikationen tat er sich insbesondere als Lyriker hervor – eine stattliche Sammlung davon ist in Lyrik. 1000 ausgewählte Gedichte 1960-2023 enthalten. Mehrere Bände enthalten hingegen Prosa und Essays – etwa die Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 – und künstlerische Fotografien.
Der Prosaband Wortschutt beginnt mit einem Gedicht, das Wiplinger im September 2024 schrieb und worin er mit knappen Worten sein Buch vorstellt und den Titel erklärt. Die erste Strophe lautet folgendermaßen:
unter dem wortschutt der vielen jahre
meines bald zu ende gelebten lebens
bin ich verschüttet bin ich vergraben
und mit mir auch die worte die bilder
aus einer längst vergangenen zeit
Im Gegensatz zu den meisten seiner Gedichte beachten die Prosatexte Groß- und Kleinschreibung, allerdings bleiben bei manchen Absätzen oder ganzen Texten die Satzzeichen ausgespart. Das ist es auch schon, was mir in formaler Hinsicht auffällt.
Die Prosastücke sind lediglich in haptischer Hinsicht »verschachtelt«, denn sie lesen sich flüssig und gut. Ineinander verschachtelt werden jedoch die Themen, denn inhaltlich erkenne ich die zentralen Motive des Wiplinger’schen Werkes wieder: die Kindheitserfahrungen während und nach der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, das große Vergessen, die in gewisser Weise noch vergesslichere Politik, die bigotte Religiosität der Bevölkerung, das Gewicht oder Ungewicht des Wortes und, natürlich, die Liebe. Kritische Überlegungen begleiten alle Texte, vielleicht Pragmatisches, und immer wieder verspüre ich eine gewisse Melancholie oder sogar Resignation. »An der Sprachgrenze, an der – wo – Wortgrenze, wo beginnt das Verstummen, das Nicht-mehr-Reden, das Schweigen?« schreibt Wiplinger, der sein baldiges eigenes Verstummen vorausahnt; diesem semantisch vielschichtigen Satz ist kaum etwas hinzuzufügen.
In einem der für mein Empfinden sehr bitteren Texte, mit dem Titel WORTE – ORTE – SPRACHE – ICH, heißt es unter anderem: »Millionen von Sternen leuchten in der Nacht, aber sie geben kein Licht. Du sagst die Wörter ›Ewigkeit‹, ›Zeitlosigkeit‹, ›Unendlichkeit‹ und sie sagen dir nichts, nichts mehr. Du kannst dir unter diesen Worten nichts mehr vorstellen; ihre frühere Bedeutung ist schon längst verlorengegangen.« Dieser Text spannt einen Bogen von einer Liebesbeziehung über Naturerfahrungen und die Sprache hin zur Gewalt des zwanzigsten Jahrhunderts und der wieder erstarkenden Dumpfheit und Gewaltbereitschaft der Menschen.
Die zugrunde liegenden Schachteln weisen alle das gleiche Format auf, denn ihre aufgetrennten Umrisse und ihre Transkriptionen ziehen sich einheitlich über die ersten siebzig Seiten. Dann folgen zwei Schachteln, die zwar ähnlich sind, aber doch etwas anders aussehen. Die weitgehende Einheitlichkeit unterscheidet das Buch von den früher veröffentlichten Schachteltexten, die nämlich auf lauter unterschiedlichen Formen zu finden waren. In seinem Nachwort erklärt der Autor, dass es sich um aufgefundene Kartonagen für Weinversand handelt, die noch nicht zusammengefaltet waren. Weil die Kartonagen so groß sind, boten sie Platz für die vergleichsweise umfangreichen Prosatexte.
Auf dem Foto ähnelt übrigens jede Schachtel einem Kreuz. Ein Zufall? Ich meine doch, dass Wiplinger diese Ausrichtung ganz bewusst gewählt hat und damit die Bedeutung des Gesagten dezent unterstreichen möchte. Etwaige weitere Interpretationen seien den Leser*innen überlassen.
Die beiden Texte Das schöne Land und Das andere schöne Land nehmen zu Österreich oder besser: zum landläufigen Selbstbild der Österreicher*innen Stellung. Den positiven Konnotationen zu Landschaft, Musik und Wissenschaft wird die Erinnerung an die Naziverbrechen gegenübergestellt. Und wie diese weiterwirken; etwa in den unsäglichen Aussagen von Kurt Waldheim zur »getanen Pflicht« ebenso wie in zahlreichen Wortmeldungen von Politikern jener rechtsextremen Partei, die zu wiederholtem Mal Regierungspartei werden könnte. Das Aufzeigen dieser Parallelitäten und damit der unermüdliche – aber womöglich nicht sehr erfolgreiche – Kampf gegen die Bedrohung durch extremistische und totalitäre Ideologien und gegen den politischen Machtmissbrauch zieht sich durch das gesamte literarische Werk von Peter Paul Wiplinger. Bei jeder Zeile ist zu spüren, wie sehr es ihn bewegte und bewegt, wie tief der völlig berechtigte Protest in ihm verankert ist. Er montiert mehrere aus den Medien oder aus der Geschichte bekannte Aussprüche zusammen, nennt konkrete Namen von Personen ebenso wie von Konzentrationslagern und präsentiert die Ähnlichkeiten und Zusammenhänge in einer Art und Weise, dass eigentlich niemand mehr darüber hinwegsehen könnte. Zudem erwähnt Wiplinger, dass es in diesem »schönen Land« nicht nur Naziverbrecher, sondern auch Widerstandskämpfer und Wehrdienstverweigerer gab; Opfer des Faschismus also nicht nur unter den direkt Verfolgten, sondern auch unter jenen, die es wagten, sich dem mörderischen Regime entgegenzustellen.
Dann wieder berührend poetische Wendungen wie die folgende aus dem Text FRAGMENTE: »(…) der Stein ist noch warm von der Wärme der Sonne Holunderblüten und weiße Chrysanthemen lege ich auf dein Grab der Schmerz brennt sich ein in meine Erinnerungen ›schön war die Zeit so schön war die Zeit‹ sang einst der Freddy Quinn und alle sangen dabei mit ›Gott ist tot‹ stand hingeschrieben an eine weiße Wand ich glaube es ist ein Nietzsche-Zitat in der Stille der Kirche berührte ich dich (…)«. Und dann im selben Text, melancholisch: »Sobald ich tot sein werde, wird nichts mehr gültig sein von meinem Denken, von meinem Dasein.« Nun, daran glaube ich jedenfalls nicht!
»Erfüllt sind die Tage von Deinen Trauergesängen und die Nächte von geheimen, geflüsterten Worten zwischen Dir und mir. Zauberworte. Liebesworte. Leidenschaftsworte.« (aus: KONGLOMERAT – ALLES ZUSAMMEN). Und über aller Liebe schwelt der nahende Tod. »Bist du da und in mir, bist du noch da oder längst schon wieder fort? Bist eine Taube, bist ein Nachtfalter, zeichnest in die Luft die Zeichen unserer LIEBE – Tod« (aus: WAS IN MiR und anderswo).
Der Kärntner Germanist Primus-Heinz Kucher steuerte einen abschließenden Essay bei, in dem er auf Wiplingers Arbeitsweisen eingeht; insbesondere, wie er mit Materialien wie Schachteln und Styropor arbeitet. Kucher weist darauf hin, dass dieses vorgegebene Material nur einen begrenzten Raum bietet, d.h., die Texte können nicht beliebig lang werden, sondern sind auf die Dimensionen der jeweiligen Schachtel und natürlich die Schriftgröße limitiert. Der Autor muss sich ganz besonders auf Form und Sprache konzentrieren und sich eine Planung zurechtlegen, wenn er mit der selbstgewählten Vorgabe auskommen möchte.
In einem der am Ende hinzugefügten Prosatexte, nämlich ohne Schachtelbezug, heißt es: »Was ist Jenes, das ohne Zeit und Raum, ohne Begrenzung, in seiner Vollkommenheit wo/wie existiert? Und was ist warum wo und wie das Nicht-Seiende; auch in seinem Verhältnis zum Seienden. Das ist keine bloße ontologische Frage der Philosophie. Hier geht es um mich, um mein Leben, um mein Sterben, um meinen Tod. Und es geht hiermit um die von mir gestellte, unbeantwortete, unbeantwortbare Frage: Wer bin ich?« Peter Paul Wiplinger sieht seine Literatur als Lebensdokument. Und wer sich damit auseinandersetzt und seine Texte liest, kommt der Antwort auf die »unbeantwortbare Frage« auf jeden Fall näher.
Wenn von »Schutt« die Rede ist, stellen sich die Meisten eine Mülldeponie vor; doch das Wort bedeutet im Grunde, dass etwas aus- oder aufgeschüttet wurde. Peter Paul Wiplinger schüttet seine vielfältigen und von tiefem Humanismus geprägten Worte in Schachteln, und er schüttet sie über uns, seine Leser*innen aus. Wir können uns in diesen Aufschüttungen und somit in Wiplingers Welt umsehen, den Gedankenflüssen folgen, den Anspielungen und den Gefühlen, die der Autor darin verpackte. Wortschutt ist ein überaus persönliches Buch. Freilich könnte ich sagen, dass sich alle Bücher Wiplingers sehr persönlich anfühlen, doch dieses scheint mir noch einmal ganz besonders zu sein. Vielleicht liegt das auch an der Reife des Autors, der diese Texte quasi an seinem Lebensende schrieb. In der elektronischen Zuschrift an mich sprach er, zu wiederholtem Male, davon, dass es sich um sein »letztes« Buch handle. Ich wünsche ihm und uns, dass er sich – wieder einmal – irrt.
Klaus Ebner (2025)